Eine Ansichtskarte von der „Seemühle“ aus den 30er-Jahren

Ruhm und Ehre. Doch der Krieg raubte den Menschen die Seele

Die Expansionspolitik der gierigen Weltmächte und die Charakterlosigkeit der angeblich Verbündeten bestimmten den Alltag von jedem und jeder im Dorf und am See. Und die flehenden Gebete zur Gottesmutter mussten sinnlos bleiben.
Eine Serie über Medizin und Menschenwürde in der Unteren Schranne. Von Peter Auer

 

Der Krieg. Vater aller Dinge. Unermesslich grauenvoll. Ein technischer Krieg, der so nie zuvor geführt worden war. Panzerwagen zum Töten von Menschen. Giftgas. All dessen in seiner Gesamtheit mag man sich im kleinen Kössen nicht bewusst gewesen sein.

Es gab keine unabhängige Medienlandschaft. Die allerwenigsten hielten eine Zeitung in Händen. Und die Blätter, die es gab, waren streng zensiert. Was wussten die blutjunge Katharina Hörfarter, die nun Müller hieß und deren Mann als Regimentsarzt an die Front abkommandiert worden war, von den Rankünen der siegesgierigen Weltmächte, von den verlogenen Allianzen, von den gottesfürchtigen Kollaborateuren, von der schäbigen Perfidie der abtrünnigen Italiener, die ihren Bündnispartner Österreich-Ungarn schnöde verrieten und 1915 mit „der anderen Seite“ in den Krieg eintraten, weil ihnen als Beute Südtirol versprochen worden war …

Die bittere Not gebar eine menschliche Tugend: „Vorgänger“ Dr. Adolf Ortler quittierte seinen Dienst in Innsbruck (von dem er sich in optimistischer Euphorie wohl mehr erwartet hatte und enttäuscht wurde) und kehrte, 51 Jahre alt, zurück in die wohlvertraute Ortler-Villa in Kössen. Von Stund an war er eingebunden und eingespannt wie nie zuvor. Die unerbittlich harten Kriegsmonate brachten für die Frauen und Kinder Belastungen, die fast nicht beschreibbar waren: die Männer weit weg an der Front, zu Hause die Arbeit auf dem Feld und im Stall. Alles ohne Maschinen, quälend die Sorge um Vater, Mann und Bruder. Dieser Bruder, der Hansei, galt seit dem September 1914 als „vermisst“. Eine schamlose Lüge des Heerführers Hötzendorf. Denn der Müllersohn aus Kranzach war in Gallizien in den allerersten Kriegstagen ohne Ausbildung an der Front regelrecht verheizt worden. Das Menschen-Schlachten in Rawa Ruska, heute an der polnisch-ukrainischen Grenze, überlebte fast keiner. Die braven Bürger daheim wurden skrupellos mit der Formulierung „vermisst“ belogen. Noch Jahre später wurde in Kössen ins Mittagsgebet der „Hansei“ einbezogen: „Heilige Mutter Gottes, gib uns unsern Hansei zruck“. Da war nicht mehr viel zurückzugeben. Der Vermisste verfaulte irgendwo in einem nassen Feld. Zerstückelt. Feld der Ehre.

Als Dr. Sebastian Müller, unterdessen 44 Jahre alt, äußerlich wohl unversehrt, aber seelisch gezeichnet von der Isonzo-Front heimkehrte nach Kranzach, war er ein anderer geworden. Das, was er in der Hochgebirgsregion um das legendäre Dolomiten-Fort Verle an Leid mitansehen hatte müssen, konnte an niemandem spurlos vorübergehen. Dazu kam nun auch noch die herbe Enttäuschung, dass er in seiner angestammten Position als der fürsorgliche Dorfdoktor von Kössen nicht mehr erwünscht war! Dr. Ortler – als „Platzhalter“ ehedem eingesprungen – weigerte sich (verständlicherweise …) wieder zu gehen. Sebastian Müller übernahm den Posten des Sprengelarzts von St. Johann. Er starb 1929, erst 55 Jahre alt. Seine Witwe stand mit vier Buben und einer kümmerlichen Pension nahezu unversorgt allein da. Resolut und ohne lautes Wehklagen nahm sie ihr Schicksal in die Hand und baute ein kleines Ausflugslokal. Die „Seemühle“, in der bis auf den heutigen Tag ein Porträt an sie erinnert.

Diese resolute Frau könnte herhalten für das Schicksal von Millionen Müttern und Witwen, die auf sich allein gestellt mit der Welt zurechtkommen mussten. Zwei der vier Söhne nahm ihr der Zweite Weltkrieg, nachdem ihr der Erste Weltkrieg den Bruder entrissen hatte. Gefallen. Sich dem Eid auf den „Führer“ verpflichtet fühlend. Frauen, die still litten und nicht klagten. Die keinen fragten nach dem „Warum“, weil sie wussten, dass es keine Antwort gab. Keine ehrliche Antwort. Die zutiefst konservativ-patriarchalische Gesellschaft der „rauen und starken Männer“ duldete das Lamentieren der „Weiberleit“ nicht. In Wirklichkeit hatten die harten Männer das Weinen verlernt …

Über Jahrzehnte war sie rund um den Walchsee bekannt. Geachtet. Eine Institution. Auch ihr Sohn war unterdessen Arzt in St. Johann, später Sprengelarzt und Mentor für die vielen Mediziner, die nach 1945 in der Unteren Schranne ihren Dienst am Nächsten verrichteten. Katharina Müller ist eine wichtige Mentorin des Tourismus geworden. Auf der Wiese neben ihrem Gasthaus ebnete sie die Fläche und schuf Platz für viele junge Leute, die (meist Studenten) aus Innsbruck und München mit dem Zelt an den Walchsee kamen, um dort zu baden und zu paddeln und im Wilden Kaiser zu klettern. Ihr Campingplatz in Kranzach war schon 1931 der erste in der Unteren Schranne. Manch verschämtes Liebespaar verdankte das frühlingszarte Glück der großherzigen Katharina, die nie nach einem Trauschein fragte, wenn die Jungen das Steilwandzelt teilten und sehr früh schlafen gingen, weil sie „gar so müde“ gewesen sind. Und die ungestüm-unzähmbaren Kletterer, die heil, aber erschöpft von der Fleischbank und vom Totenkirchl heimkehrten, wurden oft genug abends mit einer Riesenportion Kasspatzn aufgepäppelt.

Heute ist das eher unromantisch, aber eben nobler. Wohnmobile mit jedwedem Komfort stehen dicht an dicht. Ganz gewiss weit weniger an verschämter Liebesromantik, aber dafür Chemie-Klo, Mikrowelle, Smartphone und Flachbildfernseher. Gemanagt von ihrem Enkel. Auch er heißt Müller, auch er heißt Sebastian. Wie vor hundert Jahren sein Großvater, der Dr. Sebastian Müller …

(Wird fortgesetzt.)