Idylle, die oft trügerisch war. Ein Tiroler Erbhof in einer scheinbar heilen Welt. Aber die Not war groß. Auch in der unteren Schranne. (Repro: privat)

Eine nachdenkliche Zeitreise zurück in einen Alltag, in dem die Welt der Armen alles andere als heil sein konnte.
Von Peter Auer

Umsonst, weiß der Volksmund, ist der Tod. Der kostet das Leben. Und der Dorfdoktor? Wenn er schon nicht am Tod verdienen kann, dann sollte doch bei den Behandlungen zur Lebens-Erhaltung und Wohlseins-Verbesserung etwas an Barem für ihn übrigbleiben.

Wobei wir beim Kern der humanen Medizin angekommen sind. Beim schnöden Mammon! Und: Wer soll das bezahlen?

Ideen der Sozialabsicherung kursierten und griffen schon seit sehr langer Zeit. Nur in Tirol gingen die Uhren anders. Eine tatsächlich funktionierende und auch gerechte Krankenversicherung gab es erst seit der Mitte der zwanziger Jahre im letzten Jahrhundert. Damit bildeten die Tiroler das Schlusslicht. Soziales Gewissen, so mussten es sich die Verantwortlichen in Innsbruck nachsagen lassen, sähe anders aus.

Ein zweischneidiges Schwert und alles andere als ein Ruhmesblatt für die damals Mächtigen im Landhaus. Empathie mit den Schwachen? Zwischen Hochfinstermünz und Erl Fehlanzeige!

Der Wahrheit die Ehre: Die mächtigen Bauern in dem erzkonservativen Land, unzufrieden mit allem, was das „Rote Wien“ erdachte und misstrauisch gegen ominöse Neuerungen jedweder Art, die nach Sozialismus rochen, formulierten ihre Abneigung gegen Lohn für Kranke holzschnittartig so: Wenn einer sein Geld bekäme, ohne die Finger zu rühren und den Rücken krumm zu machen, dann wären der Faulenzerei und der Drückebergerei auf Dauer unkontrolliert Tür und Tor geöffnet.

Gewiss doch: Mägde und Knechte sollten gerecht entlohnt werden. Aber nicht, wenn sie in der warmen Stube hockten und draußen die Arbeit liegen blieb. Tatsächlich waren die Funktionäre des Bauernbundes bei Reizworten wie „Lohnfortzahlung“ und „Krankengeld“ hellhörig. Der Gedanke, ein windiger Nichtsnutz könne sich die Segnungen des Sozialismus im Alltag zurechtrücken und ohne Arbeit Lohn empfangen, schien den Politikern, die ja vornehmlich auf die Stimmen der Bauern angewiesen waren, absurd. Und die katholische Kirche, allgegenwärtig und unfehlbar und angeblich zuständig für christliche Nächstenliebe, leistete da keinen Widerspruch. Von den Kanzeln der Dörfer war nichts zu vernehmen, wie man den moribunden Vergessenen am Wegesrand die Hand reichen könnte. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Aber bitte nicht im Heiligen Land Tirol …

Und alles hatte zwei Seiten: In den Ballungsräumen rund um die großen Städte wie Wien, Linz, Steyr, Graz, Leoben, Bruck an der Mur, Wiener Neustadt oder Wels gab es bereits in den frühen Jahren der Ersten Republik ausreichend florierende Industrie mit potenten und international konkurrenzfähigen Arbeitgebern, die auf Dauer eine sichere Beschäftigung zusagen konnten und faire (was damals unter „fair“ verstanden wurde …) Löhne aushändigten und für den Schutz durch Krankenkassen sorgten. Das bedeutete, dass Männer, die früher auf Arbeit als Knechte in der Landwirtschaft angewiesen waren, und Frauen, die ehedem als Mägde alleinige Beschäftigung erhoffen konnten, an den Werkbänken und Schmieden und Essen und Öfen nun eine neue, unbeugsame Schicht repräsentierten: das Proletariat. Eine Gesellschafts-Kaste, selbstbewusst wie nie zuvor, straff organisiert und stark genug, um sogar Streiks zu riskieren!

Auf der anderen Seite aber waren es ja nicht nur die vermeintlich starrsinnigen und unbelehrbaren Großbauern, die zugleich noch als Schweinezüchter, Viehhändler, Rosstäuscher, Schnapsbrenner und Wald- und Grundbesitzer zu Reichtum kamen. Sie saßen als Patriarchen auf den Erbhöfen, angesiedelt vor Ort seit Jahrhunderten, verwurzelt in einem engen Geflecht aus stillem und einträglichem Geben und Nehmen, auf diskretes (Ver-)Schweigen bedacht.

Freilich hatte diese Medaille aber auch eine Kehrseite: Im alpinen Bauernstand war beileibe nicht alles Gold, was nach außen hin verführerisch glänzen mochte: Die Mehrzahl der Bergbauern hatte in den Tiroler Tälern, bis hinauf zur Baumgrenze, vollkommen andere Rahmenbedingungen. Gerade in den vergessenen Weilern und den verarmten Dörfern sah so ein Leben anders aus. Ganz anders …

Ohne nennenswerte Infrastruktur, ohne Mehreinnahmen von Handel und Gewerbe, ohne Zubrot aus dem merklich aufkeimenden Tourismus (wie ihn manch Landherren in der Republik als Gastwirte längst perkuniär zu nutzen wussten, in der Wachau, im Ausseerland, im Salzkammergut oder am Neusiedler See) sahen sich die Menschen hierzulande mit einen brutal harten Arbeitsalltag konfrontiert. Dazu kamen Kinderreichtum und Altersarmut, schlechte Schulbildung, Chancenungleichheit, Schulden bei Lieferanten von Saatgut und Düngemitteln, beim Verpächter und bei der Bank, extreme Wetterbedingungen, Seuchen im Stall, lange Wege auf Saumpfaden zu den Hochalmen, Tagesmärsche in die nächstgrößere Stadt, steile Hänge für Hafer und Korn. Dass es so einem Bauern, bei dem es am Allernötigsten fehlen musste und der auch keinen Ausweg aus seiner Misere gezeigt bekam, widersinnig erschien, seinen Knechten und Mägden Geld zu geben, das er ja selbst nicht besaß, führte geradewegs in die Quadratur des Kreises …

Heimatschriftsteller und Poeten für Blut- und Bodenliteratur ernährten sich thematisch bestens davon. Rosegger, Ganghofer. Die Filme, die die Kinos der Metropolen füllten, wussten zu erzählen von der heilen Welt da draußen, wo Hund und Katz und Reh und Fuchs und Geier und Adler die Natur so unbeschreiblich schön machten. Und natürlich gab es in all diesen seelisch weichgespülten Filmen nicht nur einen bösen Wilderer, sondern auch einen braven Landarzt, der die Sache in allerletzter Minute regelte und rettend eingriff. Die Märchenwelt in Zelluloid. Der Alltag ließ sich nicht überzuckern.

(Wird fortgesetzt)